Der Tip

(c) Klaus Marion 1998

erschienen in VorSicht 7/98


Fußball-WM98. Aus einem ganz besonderen Blickwinkel...

Eine lästige Begleiterscheinung jeder Europa- oder Weltmeisterschaft sind die sogenannten Tip-Runden, bei denen mehr oder weniger unbekannte Personen einen regelmäßig dazu nötigen, die Ergebnisse sämtlicher Spiele einer solchen Austragung vorherzusagen.

Typische Tiprunden findet man im Freundeskreis, im Sportverein, in der Kneipe oder bei der Arbeit. An letzterem Ort kann es einem sogar passieren, daß man sich an mehreren solcher Systeme beteiligen muß: Nicht genug, daß jede Abteilung ihre eigenen Wetten laufen hat, nein, auch Zweigniederlassungen, Geschäftsbereiche oder ganze Konzerne veranstalten solche inoffiziellen Tiprunden. Alle gleichzeitig natürlich.

Natürlich kann niemand dazu gezwungen werden, 5,- DM in einen Topf mit vorhergesagten Fußballergebnissen zu werfen. Theoretisch. In der Praxis ist eine Teilnahme so freiwillig wie beim Geldeinsammeln für den Geburtstag eines Kollegen bei der Arbeit. Eine Nichtbeteiligung führt unweigerlich zu einem Ruf, der das Ansehen eines Kinderschänders nur marginal übersteigt.

Schicksalsergeben werfe ich also seit vielen Jahren den geforderten Betrag in die große Kasse, fülle den vorgelegten Zettel mit irgend welchen Spielergebnissen und finde mich bei der Schlußabrechnung regelmäßig auf den letzten Plätzen wieder.

Was soll man auch anderes erwarten, wenn ich die Ergebnisse zwischen Timbuktu und den Malayischen Inseln vorhersagen soll und nicht einmal wußte, daß es diese Länder überhaupt gibt. Geschweige denn, daß dort überhaupt jemand in der Lage sein soll, einen Ball zu treten.
So auch in diesem Jahr. Der "absolut freiwillige Vorrundentip", für den ich 10 DM investieren mußte und der die gesammelten Vorrundenspiele der WM umfaßte, bescherte mir im Freundeskreis ausweislich Rudis Mitteilung einen beachtlichen 28. Platz und keinerlei Hoffnung auf Rückzahlung irgendeines Betrages.
Wahrscheinlich hätte ich den Wettzettel unter der Rubrik "Besondere Verluste und Abschreibungen" abgelegt, wäre ich nicht beim Nachrechnen meiner Verluste der letzten Jahre auf Beträge gekommen, die sich in der Größenordnung eines schnelleren Sportwagens bewegten.

Ich zog also noch einmal meinen Tip hervor und verglich ihn mit den tatsächlichen Ergebnissen. Danach griff ich zum Telefon und wählte Rudis Nummer:
"Ja?"
"Ich hätte da mal eine Frage: Ich habe alle Sieger und Verlierer richtig getippt, dazu noch 4/5 der Ergebnisse. Warum gewinne ich eigentlich nichts?"
Das Stöhnen am anderen Ende weckte in mir den Verdacht, daß ich nicht der Erste sein könnte, der hier eine tieferen Erläuterung bedurfte."
"Ich bitte Dich, Du kannst doch nicht erwarten, nur weil Du alle Siege und Verluste richtig getippt hast, auch als Wettkönig aus der Sache hervorzugehen!"
"Nicht?"
"Natürlich nicht. Selbstverständlich bekommst Du für Deine richtige Einschätzung ein paar Punkte. Aber da gibt es natürlich noch mehr. Nicht jeder Tip ist gleich!"
"Und wieso nicht"
"Weil nicht alle Spiele identisch sind. Nimm zum Beispiel Spanien gegen Nigeria. Als erstes muß der Leistungskoeffizient einer Mannschaft ermittelt werden. Wir machen dies nach einem System, bei dem der gewichtete Durchschnitt aller WM-Spiele der letzten Jahre subproportional zu dem relativen Güteindex der kontinentalen Rangliste der FIFA in Beziehung gesetzt wird. Dazu wird ein Stürmerbonus hinzugezählt, der sich je Spiel aus der Summe der Torschützenrangliste des jeweiligen nationalen Verbandes ergibt, dividiert durch die Anzahl der eingesetzten Sturmspitzen."
"Ach"
"Natürlich wird dieser Leistungskoeffizient anhand der subjektiven Stärke der Torhüter sowie dem genormten Herberger-Index der Trainerleistung des nationalen Verbandes entsprechend korrigiert. Dazu kommt noch ein Bonus für jedes geschossene Tor (dividiert durch den Stürmerindex des Torschützen), sowie einen Korrekturfaktor für die klimatischen Verhältnisse und den Heimspielbonus, der sich aus den verkauften Karten für die jeweiligen Nationen sowie dem unvermeidlichen Schwarzmarktbeschaffungsfaktor ergibt."
"Und?"
"Das heißt im Klartext: Der Sieg von Spanien ist anhand des Index praktisch sicher, somit ist für diese Wette wenig Fachkentnis erforderlich und somit die Ausbeute für den glücklichen Wetter auch nur 0,856 Gewinnpunkte. Die geschossenen Tore zählen in diesem Fall auch nur marginal, da es eigentlich klar war, daß Ronaldo als Schütze mindestens für zwei Tore gut war. Also lediglich 0,2231 Indexpunkte für das richtige Ergebnis. Da kannst Du nicht mehr erwarten. Da hätte schon Nigeria gewinnen müssen...
"Nigeria hat gewonnen. 2:3. Und das habe ich auch getippt. Und Ronaldo spielt meines Wissens nicht für Spanien"
"Ach?" Am Telefon war Papiergeraschel zu hören.
"Ja natürlich, ich sehe es. Du hattest das Ergebnis richtig getippt. Hmm. Ah ja, völlig klar. Hier hat sich der Wahrscheinlichkeitsindex bemerkbar gemacht. Dieses Ergebnis weicht dermaßen stark von den rechnerisch und aufgrund des Expertenwissens vorhersagbaren Ergebnissen ab, daß es mit einem Malus versehen wird, der nach dem isolinear reziprok quadratisch ermittelten My-Index zusammengestellt wird und verhindert, daß willkürlich ohne tiefere Fachkenntnis einfach durch Raten ermittelte Ergebnisse die tatsächliche Rangfolge im Gesamttip verfälschen können. Da war leider nichts zu machen, Du kommst dabei sogar nur auf 0,696 Gewinnpunkte für diesen Tip. Tut mir leid." Er schien Anstalten zu machen, das Telefongespräch zu beenden.
"Augenblick mal. Ich tippe fast alle Spiele richtig, und lande auf dem 28. Platz? Beckenbauer-Index hin oder her."
"Moment, ich schaue noch mal auf die Rangliste... Natürlich, jetzt ist mir alles klar. Das lag an Deinem korrigierten Fachwissenindex!"
"Wie...?"
"Du bist in Deinem Mangel an fußballerischem Fachwissen auf dem Index sehr niedrig eingeordnet. Das bedeutet, daß unwahrscheinliche Ergebnisse von Dir aufgrund Deiner Ignoranz in diesen Dingen viel eher getippt werden, als von den anerkannten Experten auf diesem Gebiet, die Dir jederzeit vorrechnen können, wie ein Spiel enden wird. Damit hast Du bei solchen Ergebnissen natürlich einen ungerechtfertigten Vorteil, der auf dieser Basis korrigiert werden muß. Anders herum sind erwartete Ergebnisse aufgrund Deines Wissensmangels nur durch Raten zu erklären, so daß diese ebensowenig in eine Wertung aufgenommen werden können. Das wäre nur zu ungerecht gegenüber dem durch sein Wissen brillierenden Sieger!"
"Aha. Was für einen Platz hattest Du eigentlich erreicht?"
"Ich? Den Ersten."


Klaus Marion


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Last updated 22.10.98