Unter Strom

(c) Klaus Marion 1999

erschienen in VorSicht 8/99


Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Nach der
Freigabe des Telefonmarktes kann der Verbraucher jetzt
sogar seinen Stromlieferanten wählen. Mit ungeahnten
Möglichkeiten...

Die abendliche Atmosphäre in der Kneipe meines Vertrauens
war ruhig und entspannt. Die noch vereinzelten Gäste
unterhielten sich leise bei gedämpfter Musik. Das Bier war
kalt. Ich schlürfte an meinem Glas.
"Willste Strom?"
Ich blickte überrascht zur Seite. Mein Freund Rudi, für
regelmäßige Leser dieser Kolumne kein Unbekannter, hatte
sich auf einen freien Barhocker geschwungen und bedeutete
dem Barkeeper mit einigen Gesten, daß ich ihn zu einem
Bier eingeladen hätte. Er blinzelte mir zu.
"Du, Rudi, Du solltest Dich wirklich von den Drogen
weghalten. Das bringt nur Ärger"
Rudi starrte mich an.
"Drogen? Nee, brauchste Strom? Kilowatts?"
Ich war deutlich verwirrt.
"Kilowatt?"
Rudi kramte in seiner Jacke und zog einige gefaltete
Papiere hervor.
"Strom. Seite einer Woche bin ich als freiberuflicher
Stromhändler tätig. Ich vermittle Stromlieferungen an
Privatkunden. Große Sache. Ein Geschäft mit Zukunft!"
"Aber... Ich bekomme meinen Strom schon von den hiesigen
Stromwerken"
"Das schon. Aber es gibt doch jetzt das
Stromdurchleitungsgesetz. Jeder Stromlieferant muß den
Strom eines anderen Lieferanten auf seinen Leitungen
durchleiten. Und Du kannst aussuchen, mit wem Du einen
Vertrag machen willst. Tja, und da bin ich als
Zwischenhändler tätig. Bei mir gibt es alles im Angebot.
Auch im Sortiment!"
"Strom ist Strom."
"Eben nicht! Hier: Ein Schnäppchen. 200 Kilowattstunden im
Angebot, Strom von Windkraftwerken aus dem Hunsrück.
Geliefert wird allerdings nur bei günstigen Windlagen... "
"Nicht akzeptabel."
"Verstehe ich. Wie wäre es damit: Der Flora-Senso-Tarif.
Der Strom wird in Handarbeit produziert. Dampfturbinen
über mit Rosen- und Lavendelhölzer befeuerten
Feuerstellen. Gegen einen geringen Aufschlag auch in
Sandelholz erhältlich. Ein Duft, der den Stromverbrauch
erst richtig zum Sinneserlebnis macht..."
"Das riecht man in der Steckdose??"
"Nuuun..." Rudi blätterte in einer Broschüre. "Es wird vom
Lieferanten zumindest nicht ausdrücklich bestritten. Nicht
das Richtige? Hmm. Da hätten wir das biodynamische
Naturprodukt Ökokuh 2000: Strom, hergestellt aus den äh
Verdauungsendprodukten von freilaufenden Kühen, gewonnen
in einer Biogasanlage. Mit Umweltstempel."
"Ist das sehr preisgünstig?"
"Nein, eigentlich nicht. Aber ein halber Pfennig pro
Kilowatt kommt der Reformhausbewegung zugute, dazu stehen
jedem Kunden ein Deputat von einem halben Schlachtrind pro
Jahr zu."
"Also, da wäre ich eher an kostengünstigen Angeboten
interessiert."
"Nun, da haben wir hier was ganz neues reinbekommen: Der
Tarif `Neutron ultra mit garantiertem Endlager`. Strom aus
100% reinem Atomstrom, garantiert ohne CO2-Belastung. Ein
Extra-Schnäppchen der Atomindustrie. Wird auch
"Trittin-Feger" genannt."
"Na ja..."
"Vielleicht möchtest Du eher die Entwicklungsländer
unterstützen? Und gleichzeitig ökologisch ein gutes
Gewissen haben? Da wäre der 3-Wel-Öko-Solidaritäts-Tarif
genau das Richtige. Der Strom wird von fröhlichen
Eingeborenen auf Dynamofahrrädern gewonnen. Garantiert
reine Beinarbeit, geprüfte Ruhezeiten, Mindestlohn und:
Keine Kinderarbeit! Ein Geheimtip: Nur so lange das
Angebot reicht!"
Ich schielte auf die Preisliste.
"Mein Gott, das ist ja vier mal so teuer wie mein
bisheriger Tarif."
"Für die Weltentwicklung muß man natürlich Opfer bringen,"
räumte Rudi ein. "Das hier wird Dich aber sicher
interessieren: Gulag Extra, der supergünstige Strom aus
Sibirien. Ein echtes Schnäppchen. Und ebenfalls biologisch
rein auf Dynamofahrrädern gewonnen"
"Genauso wie in dem 3-Welt-Tarif? Warum sind die dann so
günstig?"
"Nun, nur das mit den Fahrrädern ist gleich. Den Rest mußt
Du Dir wegdenken. Dafür sind rund um das Lager
Stacheldraht und Wachen. War ja nur so ein Angebot."
"Also, ich weiß nicht..."
"Na, gut, ich habe hier auch sehr schöne Mischangebote. Du
buchst 30% Wasserkraft aus den Rheinauen, dazu noch 10%
Gezeitenstrom aus garantiert französischen Küsten plus
einem Extra-Bonus von 10% Strom aus
Wärmerückgewinnungsanlagen der BMW-Fahrzeugwerke in
München. Aufgefüllt mit dem Angebot deines lokalen
Anbieters. Den Gratisbonus gibt es allerdings nur bis
November unter Vorbehalt von konjunkturellen Einbrüchen in
der Kraftfahrzeugindustrie."
"Ich weiß nicht..."
Ein halbe Stunde später waren wir uns einig. Ab sofort
kommt mein Strom von 8 bis 14 Uhr von den
Braunkohlekraftwerken der märkischen Seenplatte, für den
eingerechneten Ostbonus leiste ich mir zwei Stunden
Recycling-Strom vom gelben Punkt, ergänzt durch
ICE-Rückgewinnungsstrom der Bundesbahn. Das Risiko von
Verspätungen des Bahnstroms wird durch einen
Robin-Wood-Vertrag kompensiert, der für ökologisches
Verhalten sogar einen Sonderbonus in Höhe von 5% der
Spitzenverbrauchswertsbelastung vorsieht. Für den
Feierabend habe ich mir dann noch etwas Entspannungsstrom
aus dem Sandelholzangebot geleistet. Soviel bin ich mir
wert.

 

Klaus Marion


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Last updated 15.08.99