Leistungsgerecht

(c) Klaus Marion 2003

erschienen in Initiativ

 


Seit Jahren ist die leistungsanregende Wirkung von erfolgsorientierter Bezahlung durch verschiedene Studien belegt. Dabei sind sich alle Experten einig, dass ein adäquates Bezahlungsmodell, bei dem Grundgehalt und positive Bonusanreize kombiniert werden, die Mitarbeiterproduktivität steigert, Teamdenken befördert und die Arbeitnehmerzufriedenheit erhöht.
Unbestritten ist auch, dass es dabei auf Fähigkeit des Chefs ankommt, wie er durch sinnvolle Kombinationen der Maßnahmen dem Arbeitnehmer das Gefühl gibt, dass seine Leistung durch ein entsprechendes Bonussystem direkten Einfluss auf seine monatlich zur Verfügung stehenden Finanzmittel hat. Natürlich sind solche Modelle nicht in jedem Arbeitsbereich sinnvoll einsetzbar...

3. Januar
Wurden vom Chef zusammengerufen. Der Baustoffgroßhandel Mühlschneider und Sohn, wurde von ihm ausdrucksstark erläutert, werde sich in schwierigen Zeiten nicht modernen Erkenntnissen verschließen.
Um die Mitarbeitermotivation zu erhöhen, werde ab sofort das bestehende Lohnsystem um eine leistungsabhängige Variante erweitert. Näheres werde in kürze bekannt gegeben.
Habe mich im Freundeskreis umgehört. Mir wurde bestätigt, dass ein solches Modell gar nicht so übel sei. Je nach Art und Umfang können durch Sonderprämien für gute Leistung ganz ordentliche finanzielle Gewinne realisiert werden. Natürlich: Leistung muss gebracht werden.
Meine Frau hat mir diesbezüglich ihr Vertrauen ausgesprochen und eine Anzahlung für einen außerplanmäßigen Winterurlaub geleistet

6. Januar
Abteilungskonferenz. Der Chef erläutert meinem Kollegen und mir die Modalitäten des neuen Bezahlungssystems. "Leistung wird belohnt!" ist sein Credo. In Zukunft werde die Zahl der in der Auftragsabwicklung verbuchten Aufträge das Maß aller Dinge sein.
Wende ein, dass wir keine Aufträge akquirieren, sondern eingehende Aufträge nur verbuchen. Welche Möglichkeiten wir da hätten, auf einen reduzierten Eingang von Aufträgen zu reagieren?
Der Chef beruhigt uns. Alle Bezahlungen erfolgen Abteilungsintern kostenneutral. Eine Reduzierung der Gehaltssumme sei also innerhalb der Abteilung ausgeschlossen.

20. Februar
Stelle fest, dass der Leistungsgedanke seine Vorteile hat. Arbeite jetzt motivierter und beschwingter. Habe mein tägliches Pensum viel schneller erledigt als sonst. Das gleiche kann ich auch bei meinem Kollegen beobachten. Nur in der Mittagspause verhält er sich seltsam. Isst kaum etwas und verschwindet schon nach kurzer Zeit aus der Kantine. Er wolle abnehmen, war sein knapper Kommentar.

1.März
Die neue Gehaltsabrechnung ist gekommen. Ein Schock. Mein Gehalt hat sich um 25% reduziert. Bin unverzüglich im Gehaltsbüro gewesen, um diesen offensichtlichen Irrtum aufzuklären. "Die Gehaltssumme wird nicht reduziert, hat der Chef gesagt!". Die Leiterin der Gehaltsbuchhaltung bestätigte mir ausdrücklich diese Deutung. Sie gelte allerdings für die Abteilung als Ganzes. Meine 25% habe mein Kollege bekommen. Wegen deutlich höherer Zahl bearbeiteter Aufträge. Ich bin verwirrt. Alle eingehenden Aufträge kommen in einen gemeinsamen Korb. Und Abends ist dieser Korb immer leer. Habe die Winterreise wieder storniert. Den Sommerurlaub sicherheitshalber auch.

5. März
Mein Verdacht hat sich zur Gewissheit verdichtet. Mein Kollege bearbeitet in der Mittagspause zusätzliche Aufträge. Des weiteren habe ich ihn im Verdacht, Aufträge aus dem Eingangskorb in seinem Schubfach zu bunkern, um die Zahl seiner Erfassungen in die Höhe zu treiben.
Habe mit ihm von Mensch zu Mensch gesprochen. So gehe es nicht weiter. Die Zahl der Aufträge ist begrenzt. Solange wir mehr Zeit als Aufträge haben, ist so ein Spektakel uns unwürdig. Haben vereinbart, dass jeder eingehende Auftrag einen fortlaufenden Nummernstempel bekommt. Gerade Zahlen ich, ungerade Zahlen er.
Habe beschlossen, Mittags zu fasten. Sicher ist sicher.

8. März
War heute Morgen in der Poststelle, um mal nach dem rechten zu sehen. Voller Überraschung entdecke ich meinen Kollegen, wir er einige Aufträge direkt abholen wollte. Ich äußere meine Empörung über dieses unfaire Verhalten und kündige an, ihn im Auge zu behalten. Dummerweise bemerkt er die unter meinem Pullover versteckten Auftragsschreiben. Wir einigen uns, die Post gemeinsam am Morgen auf der Poststelle abzuholen.

1.April
Mein Gehalt ist diesen Monat um 30% niedriger. Ich bin entsetzt. Ich rufe einen Kunden an. Dort erfahre ich zu meiner Überraschung, dass mein Kollege dort vereinbart hat, Aufträge grundsätzlich als "streng vertraulich - zu persönlichen Händen" an ihn zu verschicken. Das ist niederträchtig. Verbringe die Mittagspause in einer Telefonzelle und rufe von dort aus unsere Kunden an, um den Adressaten der vertraulichen Sendung auf mich zu ändern.
In der Nachbarzelle steht mein Kollege und telefoniert ebenfalls.

15.April
So geht es nicht weiter. Haben uns abgesprochen und einen Waffenstillstand vereinbart. Durch stundenweisen Einsatz eines neutralen Mitarbeiters wird sichergestellt, dass alle Aufträge streng gerecht auf meinen Kollegen und mich verteilt werden. Nach Abwicklung werden die Aufträge auf einer Liste abgehakt und das Ergebnis durch eine Hilfskraft notiert. Leider hat sich der Aufwand der Auftragsverwaltung dadurch erhöht.
Wir sind jedoch sicher, dass jetzt ein gerechtes Ergebnis erzielt werden kann. Der Stress ist mörderisch.

2. Mai
Beide Gehälter sind diesen Monat um 25% niedriger. Wie die Gehaltsabteilung mir erläuterte, ist dies ganz natürlich. Die personellen Aufwendungen für Hilfskräfte in der Auftragsabteilung hätten sich nämlich deutlich erhöht.

 


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Last updated 02.05.03