Liedgut

(c) Klaus Marion 2001

erschienen 3/2001 in VorSicht


Das Lied ging mir nicht aus dem Kopf. Der Song war wohl bereits etwas älter, doch er wollte mir nach dem Abspielen im Radio nicht mehr aus dem Bereich zwischen meinen Ohren verschwinden.
Meine Gattin empfahl mir genervt, einfach die Platte zu kaufen und mir den Popsong noch ein paar mal anzuhören. Dann ginge das vorbei. Es erwies sich jedoch schnell, dass die Platte vergriffen und der Titel nur auf der "ultimaten Sammlung der 10000 besten Hits" zu finden war, im Geschenkschub zu 398,- zzgl. Versand. Das erschien mir zu teuer.
In meiner Verzweiflung sprach ich Rudi an, dessen CD- und Schallplattensammlung nicht unbeträchtlich ist, und der Aufgrund der Tatsache, dass er mir schon seit längerem diverse Geldbeträge zu schulden pflegt, für derartige Wünsche aufgeschlossen sein dürfte.
Ich nahm also eine leere Musikkassette und begab mich in die Höhle des Löwen, nicht ohne meine Familie wissen zu lassen, das ich binnen ein paar Minuten wieder zurück zu sein gedachte.
Im überladenen Zimmer, wo Rudis Musikanlage untergebracht ist und das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer durchschnittliche Müllhalde vor Einführung der Mülltrennung hat, konnte mir der Bewohner eine positive Mitteilung machen:
"Die habe ich noch als Schallplatte. Ich mach' Dir eine Kopie"
Ich reichte ihm wortlos die Kassette.
Rudi starrte mich fassungslos an.
"Was soll denn das sein??"
"Öh, nun. Eine Kassette, C60, Chromdioxid..."
"Ich bitte Dich! Kassette ist doch Megaout. Hat doch kein Mensch mehr. Denk doch mal an die Qualität! Die Dynamikverluste! Die amplitudische Stauchung durch unregelmäßige Abspielgeschwindigkeiten. Und das Rauschen erst!"
"Eigentlich wollte ich mir das Lied nur noch mal so anhören. Die Qualität ist nicht so..."
Rudi blickte mich streng an. "Die Qualität ist das Allerwichtigste. Wir brennen eine komplette Kopie der Schallplatte auf CD-ROM"
Meine Einwände, dass mir derartiges illegales Tun völlig fremd sei, und mir eine Überspielung des Einzeltitels völlig ausreichen würde, verhallten ungehört.
Rudi begann eine umfangreiche Maschinerie zu starten.
"Wir ziehen die Abspieldaten des dynamischen Abnehmers direkt über den Audioeingang meines PCs. Dort wandeln wir in WAV um, aber hoch gesampelt, um hier keine Bandbreitenverluste zu erleiden. Dann einen Übergang auf Audiozwischendatei und anschließendes brennen einer Audio-CD in doppelter Geschwindigkeit. Hier, wie hört sich die Zwischendatei an?"
"Wie von einer Maus. Aus 20 Meter Entfernung."
Rudi räumte ein, dass die am PC ankommenden Töne etwas leise wären.
"Das ist aber kein Problem. Ich hol meinen Kumpel Ralf."
Nach kaum einer Stunde kam Ralf in Begleitung einer weiteren Person sowie diversen Geräte ins Zimmer gestürmt. Eine kurze geflüsterte Diskussion der Experten ergab folgende Hinweise:
"Der Ausgangspegel des Plattenspielers ist zu niedrig. Wir werden einen Zwischen- und Hauptverstärker anschließen. Vor dem Bandfiltermischpult."
Tatsächlich, kaum 120 Minuten später dröhnten die ersten Musikklänge kräftig aus den PC-Lautsprechern.
Ich wagte einen Einwand.
"Vielleicht könnte ich mir einfach das eine Lied noch mal anhören? Ich wollte eigentlich schon längst..."
Rudi drückte mich auf einen Sessel neben dem angebissenen Rest eines Big Macs.
"Nichts da. Jetzt brennen wir. Dann kannst Du die Scheibe als Ganzes mitnehmen!"
Die nachfolgenden Probleme mit den zu erstellenden Rohlingen waren nach Hinzuziehung eines weiteren Experten aus der Nachbarschaft bald geklärt.
"Hier: Die Platte!" Ich nahm die CD in Empfang, bedankte mich artig und steckte die Scheibe in Rudis CD-Player, um einen Test vorzunehmen."
"Siehst Du: Das ist Dynamik!"
Tatsächlich: Hinter einem Geräuschvorhang von Knacken, Rauschen und verzerrten Plattenspielerantriebsbrummen war durchaus etwas Liedähnliches zu hören. Rudi zog die Silberscheibe sofort wieder ein.
"Was erwartest Du? Das ist eine alte Analogplatte, da kommen natürlich Nebengeräusche hinzu. Die treten hier natürlich auch dynamischer hervor. Du hast doch Zeit, oder?"
"Nein. Ich..."
Rudi ignorierte mich völlig und telefonierte bereits wieder mit weiteren Freunden, um das Qualitäts-Problem zu lösen. Alle versprachen zu kommen. Inzwischen wurde es in dem Zimmer darob der Menschenmassen bereits ungemütlich eng. Rudi übersetzte mir die aufgeregte Diskussion flüsternd.
"Sie streiten sich noch, ob wir die Platte nur über einen Noise-Reduction-Filter auf die CD-ROM schießen, oder ob eine Rekonstruktion auf Basis der Bandfilterkennlinie sinnvoller ist. Auf jeden Fall spielen wir nass ab!"
Es dämmerte bereits, als die neueste Variante auf eine weitere Scheibe gebrannt war.
"Ich finde es jetzt gut so. Ich muss nämlich wirklich nach Hause... der Hund..."
Einer der 16 anwesenden Personen schüttelte den Kopf (es war, glaube ich, der Spezialist für Re-Sample geclonter Audiodaten). "So können wir das nicht lassen. Unannehmbar. Wir brauchen eine weitreichende Rekonstruktion der Daten."
"Aber nicht auf diesem niedrig getakteten PC. Da geht das Oversampling ratenmäßig total in den Unschärfebereich!"
Ich stimmte dem nachdrücklich zu und versprach, dies am morgigen Tag bei Abholung der CD zu bedenken.
Doch Rudi ließ mich nicht gehen.
"Die machen das alles für Dich. Da kannst Du nicht einfach so abhauen!"
Inzwischen hatten die Fachleute sich geeinigt. Die abgespielten Analogdaten wurden in hoher Samplingqualität als MP3 gemastert, per Datenleitung in die USA zu einem Freund überspielt. Der entpackte die Daten erneut, um sie im Anschluss per Breitbandbroadcast auf einen Hochleistungsrechner an einer Uni in Chile zu überspielen, wo zwei Hobby-Spezialisten mit einer speziellen Software das Knacken entfernten, die Dynamik anhoben, die Stereospuren neu abmischten und daraus wieder ein Audiofile produzierten. Die so gewonnenen Daten wurden in Liverpool von einem Spezialisten nachbearbeitet, der dann das File via Satellit überspielte.
Während ich ermattet der Sonne beim Aufgehen zusah, entschieden die anwesenden Spezialisten, dass eine Analog-CD doch nicht das richtige Medium für die hochveredelte Version der von mir benötigten Platte sei.
"Hört sich das jetzt auch vernünftig an?" Mein Röcheln rief Mitleid hervor, und man spielte mir mein Lied wenigstens kurz an. Tatsächlich, noch nie hatte ich das Lied in einer derartigen Reinheit gehört, außer vielleicht im Radio einen Tag vorher.
"Hier ist die Kassette. Da kannst Du dir das Lied tausend Mal abspielen, und das in genialer Qualität."
Ich bedankte mich überschwenglich bei der anwesenden Menschenmenge und kroch nach Hause.
Leider ist die Platte jetzt auf einer digitalen DAT-Cassette, für die ich gar kein Abspielgerät besitze.
Sie steht im Regal, und wenn mir der Song wieder nicht aus dem Kopf geht, so blicke ich sie scharf an.
Das hilft. Ein wenig.



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Last updated 05.05.01