Mit Biss

(c) Klaus Marion 2/2004

erschienen in VorSicht

 


Viele Dinge haben sich in den letzten Jahren im Kino verändert. Vorbei die Zeiten, als man bei der ausverkauften Abendvorstellung beim Öffnen der Kinosaaltüren ohne Rücksicht auf Verwandte oder am Boden liegende Kinder zu den Plätzen stürmen musste, um einen halbwegs vernünftigen Platz zu ergattern. Die Kinositze sehen nicht mehr so aus, als ob sie als Kriegsbeute 70/71 aus Frankreich requiriert worden wären, und der Wartebereich ähnelt auch nicht mehr dem Ambiente einer stillgelegten Bahnhofshalle.
Und man kann sogar etwas zu essen bekommen.
Zeit, mal wieder etwas über das Kino zu schreiben...

Da der Rest der Familie leider nicht zu Hause war, hatte ich für den Abend den Besuch eines Kinofilms vorgesehen. Da das Interesse an einem Besuch von "Das Grauen der mörderischen Seelenfresser" im näheren Freundes- und Bekanntenkreis seltsamerweise nur sehr mäßig war, hatte ich beschlossen, einmal völlig alleine ins Kino zu gehen. Das war zwar gefühlsmäßig etwas ungewöhnlich, aber dadurch würde ich auch nicht vom Genuss des von der Kritik als "Schocker" bezeichneten Filmstreifens abgelenkt werden.
Als ich schließlich am Abend in letzter Minute im Kino erschien, viel mein Blick auf die verlockenden Verkaufsstände für Süßigkeiten und allerlei Knabbereien.
Da ich im Verlauf des Tages aufgrund verschiedener Umstände weder zu einem Frühstück noch zu einem Mittagessen gekommen war, entschied ich, mir die notwendige Verpflegung umgehend dort zu besorgen.
Ich orderte also diverse Gummibärchen, Chips, 2 Liter Cola im Becher sowie einmal die Nachos, deren Verzehr ich zwar schon öfters im Kino beobachtet, jedoch selber noch nicht durchgeführt hatte.
Nachos, wie ich feststellte, sind seltsame, dreieckige chipsähnliche Maiscracker, die Zusammen mit einem scharfen Dipp in einer Weichplastik-Schale verkauft werden, die man nicht am Rand anfassen sollte, da sie sonst in der Mitte durchknickt und ihren Inhalt auf dem Boden verteilt.
"Sie können ihre Hose auf der Toilette säubern. Möchten Sie noch eine Schale Nachos erwerben?"
Die zweite Schale mit der ganzen Hand unterfassend, erreichte ich schließlich den ausgewiesenen Kinosaal, wo mein reservierter Platz als einziger in der Reihe noch frei zu sein schien.
Ich begab mich zu meinem Platz, wobei mir deutlich bewusst wurde, dass mein rechter, unmittelbarerr Sitznachbar kein interessierter Cineast zu sein schien, sondern eher verdientes Mitglieder der hiesigen Ortsgruppe der Hells Angels.
In frühen Jugendtagen war das der Moment, in dem ich unauffällig versuchte, aus der unmittelbaren Nähe des bekannten Stadt-Rowdies durch die Wahl eines anderen Platzes zu entkommen. Leider sind durch den Kauf einer festen Sitznummer diese Möglichkeiten heutezutage stark eingeschränkt.
Auf der anderen Seite, so schalt ich mich, sind diese Zeiten vorbei. Sei ein Mann! Gleich fängt der Film an. Und iss endlich was!! Letzteres kam von meinem darbenden Magen
Ich registrierte kurz, dass beide Dosenhalterungen an meinem Sitz von den jeweiligen Banknachbarn mit Bierflaschen belegt waren, und verteilte balancierend meine Nahrungsmitteleinkäufe auf meinen Knien.
Der Film startete bereits, und ich konnte feststellen, dass ich offensichtlich nicht der einzige war, der mit Hunger gesegnet war. Das ganze Kino schien sich von Knabbereien und Popcorn zu ernähren.
Hoffnungsvoll biss ich in einen Nacho. Er war sehr lecker. Ich biss in den nächsten. Die Soße war wirklich sehr scharf. Ich öffnete die Tüte mit den Gummibärchen.
"Halts Maul!"
"Ich habe nichts gesagt!" Ich wandte mich nach rechts in die Dunkelheit.
"Hör sofort auf zu essen!"
"Ich habe aber Hunger. Ich habe seit Stunden nichts gegessen, und..."
Aus dem Halbdunkel des beginnenden Massakers auf der Kinoleinwand wandte sich mir eine gorillahafte Gestalt zu.
"Hör zu, Zwerg! Du machst Krach beim essen. Das verdirbt den Film!"
Nun, diese Tatsache konnte ich nicht ganz abstreiten. Das ganze Kino knisterte vom öffnen von Tüten und knackte vom Verzehren von Chips und allerlei Gebäck, das offensichtlich auf maximale akustische Wirkung hin entwickelt wurde. Insbesondere der Biss in einen Nacho verdeckt für kurze Zeit die gesamte lautmalerische Handlung. Nun, ich würde etwas vorsichtiger arbeiten müssen.
"Ist gut! Bin schon ruhig"
Ich nahm mir vorsichtig ein weiteres Maisgebäckstück, schob es in den Mund und verschloss diesen sorgfältig, bevor ich darauf biss.
KRACH
"Was habe ich gesagt? Hör sofort auf, sonst muss ich Dich schlagen!"
In mir regte sich todesmutiger Widerspruchsgeist.
"Da vorne essen auch alle!"
"Nicht mehr lange!" meinte mein behaarter Nachbar und beugte sich nach vorne.
Nun sollte man gerade in Zeiten der Gesundheitsreform und damit verbundener erhöhten Zuzahlungen bei Zahnersatz bei Meinungsverschiedenheiten eine besondere Vorsicht walten lassen, aber mir war klar, dass wenn ich mir nicht umgehend Kalorien zuführen würde, ich den Film nicht bei Bewusstsein überleben würde. So begann ich, meine Kaubewegungen der Filmhandlungen anzupassen. Binnen kurzer Zeit gelang es mir, die szenischen Besonderheiten des Horrorstreifens für eine kontrollierte Nahrungsaufnahme zu nutzen. Laute Schreie eines der zahlreichen Mordopfer verhalfen zu einem schnellen Biss in die mitgebrachten Nahrungsmittel. Laute Unterhaltungen auf der Leinwand vermochte ich schnell durch prononciertes Kauen für die Kalorienzufuhr zu Nutzen. Ein 'Ich bring Dich jetzt um!' ergab ein wunderbar rhythmisches 'Reinbeiß-kau-kau-schluck-kau'', dass den neben mir misstrauisch lauschenden Kinoliebhaber nicht verärgerte.
Erstaunlich war, dass alle Umsitzenden unter den finsteren Blicken des Gorillas zu einer ähnlichen Taktik gelangt waren. Besonders deutlich wurde dies, als das gejagte Opfer (es war das 15. oder 16.) vorsichtig durch das Unterholz eines Laubwaldes stiefelte. Bei jedem Schritt auf der Kinoleinwand bissen 30 Zuschauer in ihren Nacho, so dass es sich anhörte, als ob das Opfer durch tiefen, knirschenden Schnee wandern würde.
Das Highlight war das prasselnde Lagerfeuer gegen Ende des Filmes. Dutzende Gummibärchentüten wurden synchron geöffnet, und verstärkten das Geprassel zu einem lautmalerischen Waldbrand.
Das beeindruckte selbst meinen Sitznachbarn.
Am Schluss des Filmes beugte er sich zu mir herüber und meinte:
"Geiler Film. Und irre Geräuscheffekte!"

Ich wankte schweißgebadet nach Hause.



Klaus Marion


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Last updated 08.07.05