Valentin

© Klaus Marion 2005

erschienen in VORSICHT 3/2005

 


Der Valentinstag ist der richtige Zeitpunkt, an dem auch schon längebestehende Beziehungen gemeinsam einen liebevollen Blick zurückwerfen und die Beschwernisse des Alltags vergessen sollten.
So beschlossen meine Frau und ich, den diesjährigen Tag mit einem kurzen Besuch in einem kleinen, von uns öfters frequentierten Restaurant fremdländischer Küche zu begehen.
Die gedämpfte Atmosphäre, die lauschige Umgebung, die nette Bedienung, dazu ein wundervolles Essen - ein romantischer Abend eben.
So bestellten wir vorsorglich einen Tisch für 8 Uhr, um uns mit angenehmer Vorfreude sowie ausreichend Hunger gewappnet, in das Lokal unserer Wahl zu begeben.
Nach dem Eintreten blieben wir überrascht stehen. Das Lokal war überfüllt, praktisch alle Tische besetzt. Der Geräuschpegel bewegte sich, ich musste es gestehen, im Rahmen einer durchschnittlichen Bahnhofshalle im Berufshauptverkehr. Mein Frau zwinkerte mir zu:
"Schau, wie romantisch: Alles Pärchen, die den Valentinstag begehen!"
So war ich auch nicht weiter verstimmt, dass es 5 Minuten dauerte, bis der Besitzer der Lokalität uns zu unserem reservierten Platz bringen konnte.
"Es tut mir wirklich leid. Beide Bedienungen sind krank. Und das heute! Bin allein hier vorne im Lokal. Ich räume die benutzten Teller da gleich weg!"
Dafür hatten wir natürlich Verständnis.
Es dauerte auch kaum eine Viertelstunde, bis der sichtlich abgehetzte Inhaber endlich zu unserem Tisch kam, um das benutzte Geschirr zu entfernen. Weitere 10 Minuten dauerte es, bis das frische Tischtuch herbeigeschafft werden konnte. Ich versuchte, seinen Stress nicht noch durch unangebrachtes Drängeln zu vergrößern.
"Wir hätten gerne 2 Pils. Und die Karte."
"Kommt sofort!"
Gut gelaunt unterhielten sich meine Frau und ich, während rings um uns herum Menschenmassen das Lokal betraten, verließen, bestellten, bezahlten oder sonstige Dinge taten, für deren schnelle Umsetzung normalerweise eine bestimmte Mindestzahl von Servicekräften benötigt wird.
Weitere viertel Stunde später hatten wir unser Bier und die Karte.
"Wir sollten ein Menü nehmen. Für zwei. Wie romantisch!"
Wie recht sie hatte. Wir würden das Spezial-Menü bestellen.
Zumindest wenn es mir gelingen würde, den von Tisch zu Tisch eilenden Chef zu erwischen. Dieser erwies sich jedoch als äußerst geschickt, unseren Blicken schuldbewusst, aber konsequent auszuweichen. So war der Zeiger der Uhr schließlich auf 9 Uhr gewandert, als es mir endlich gelang, den serviertechnischen Einzelkämpfer beim Arbeiten am Nachbartisch zu stellen und unsere Bestellung loszuwerden. Er beruhigte uns.
"Geht jetzt ganz schnell. Ich bringe die Bestellung in die Küche. Noch zwei Bier?"
Mein Frau und ich führten einige romantische Gespräche, welche jedoch ab und an vom aufdringlichen Knurren meines Magens gestört wurden.
Des weiteren machte sich problematisch bemerkbar, dass ich an diesem Tag noch nichts Größeres gegessen hatte, was die Wirkung der in der Verzweiflung konsumierten Biere gleichermaßen stark erhöhte, wie sie meine Fähigkeit zur artikulierten Diskussion verminderten.
Besonders störend wirkte sich aus, dass ich unwillkürlich versuchte, den Stand aller Bestelltransaktionen an den Tischen im Auge zu behalten.
Der Geruch des rings um uns konsumierten Essens wirkte benebelnd. Ich beschloss, ungeachtet aller zivilrechtlichen Konsequenzen an Nachbartisch Mundraub zu begehen.
Meine Frau hatte jedoch erfreuliche Nachrichten
"Bleib ruhig! Es geht schneller voran! Die Essen kommen jetzt Schlag auf Schlag."
"So, jetzt ist es überstanden. Hier, Ihre Suppe!"
Tatsächlich: Zu dem von uns gewählten Menü gehörte eine Suppe.
Noch nie zuvor in der Geschichte der Gastronomie wurde eine Suppe um halb 10 Uhr Abends mit soviel Dankbarkeit begrüßt. Unsere durch Kaloriendefizit getrübten Sinne reagierten fiebrig auf die unerwartete Zufuhr von Nahrungsmittel. Die irritierten Blicke der umsitzenden Gäste auf das auslecken der Suppentasse ignorierten wir großzügig.
"Mein Gott, war das gut. Hoffentlich kommt jetzt bald der Hauptgang"
Wir unterhielten uns weiter über private Erlebnisse, die allgemeine Weltlage, philosophische Fragen und theologische Implikationen, während wir weiter auf das Eintreffen des Hauptgangs warteten. Es war wohl baldigst damit zu rechnen, zumindest waren die ermutigenden Gesten des Chefs im vorbeirennen so zu deuten.
Meine Frau starrte auf die Nachbartische.
"Ist Dir aufgefallen, dass die meisten anderen ohne den Menü-Firlefanz schon längst fertig gegessen haben? Warum hast Du ein Menü bestellt? Ich will hier nicht sterben. Ich will nur etwas essen!"
"So, jetzt geht's aber wirklich los. Hier, Ihre Appetithäppchen!"
Ich starrte auf das Tellerchen mit einem zwar schön garnierten, aber in Anbetracht unserer verzweifelten Lage lächerlich kleinen Nahrungsmittelbissen. Ich schluckte ihn ohne längeres kauen kommentarlos herunter.
"Meine Frau begann zu zittern.
Die Uhr zeigte jetzt viertel vor Elf.
"Wenn nicht bald das Hauptmenü kommt, begehe ich einen Mord. Ich habe Hunger! Ich bin verzweifelt!"
Unsere alptraumhaften Vorstellungen der weiteren Wartezeiten waren jedoch verfrüht. Kaum eine halbe Stunde später kam der erste Teil des Hauptgangs.
Danach, mit angemessenerer Wartefrist, der zweite.
Fairer Weise muss gesagt werden: Das Essen war gut. Allerdings was es jetzt auch viertel vor 12, und unsere Unterhaltung versandete langsam in den leeren Weiten der Sprachlosigkeit. In wenigen Stunden hatten wir wieder aufzustehen und unseren Tätigkeiten nachzugehen.
"Okay, jetzt gehen wir endlich!"
"Nachtisch kommt gleich"
"Was, auch noch Nachtisch?"
Wir hätten tatsächlich nach dem Nachtisch gezahlt, hätte uns der Chef nicht einen Kaffee spendiert ("Dauert einen Moment, bin ganz alleine hier!"), wegen der kleinen Wartezeit und zur Begrüßung des neuen Tages.
Ich entschuldigte das hemmungslose Weinen meiner Frau mit einem tragischen Trauerfall in der näheren Verwandtschaft.
"Bitte.. die Rechnung..."
"Natürlich. Ich packe Ihnen aber vorher noch die Reste des Essens ein. Dauert nur einen kleinen Moment

Klaus Marion


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Last updated 11.10.05