Telefonie

(c) Klaus Marion 1998

erschienen in VorSicht 6/98


Es schien ein geruhsamer Abend zu werden. Die Kneipe war gut gefüllt, die Stimmung ausgelassen und die Musik akzeptabel. Die positive Atmosphäre schien sogar Hermann, den Schankwirt, erfaßt zu haben. Die Gläser waren gut gefüllt, und in einem Anfall von unvorsichtiger Verschwendungssucht ließ er sich sogar dazu hinreißen, kostenlose Knabbereien, die tatsächlich nicht älter als fünf Jahre waren, auf den Tischen zu verteilen.
Ich tat gerade einen tiefen Schluck aus meinem Glas, als sich die Sonne verdunkelte. Bei genauerem Hinsehen mußte ich meinen Irrtum erkennen. Es handelte sich bei dem Phänomen um Rudi, ein den treuen Lesern meiner Geschichten nicht ganz unbekanntes Subjekt, dessen monetäre Schulden bei mir auch durch seine jüngsten unternehmerischen Aktivitäten nicht nennenswert reduziert wurden.
Rudi öffnete seinen Trenchcoat und setzte sich zu mir an den Tisch. Ich hielt vorsichtshalber mein Glas fest.
"Karten?" Er versuchte vertrauensvoll zu zwinkern. "Verschiedene Karten?"
Ich beugte mich vorsichtig zu ihm.
"Also, für das Endspiel, da würde ich schon zwei Karten nehmen." Ich blickte mich um und senkte meine Stimme. "Was kostet die Halbfinals bei dir?"
Rudi betrachtete mich indigniert.
"Doch kein Fußball. Karten, sag ich!"
"Tut mir leid, aber ich komme in der nächsten Zeit nicht nach Paris."
"Mein Gott, so begriffsstutzig kann doch niemand sein! Karten. Telefonkarten!"
Er zog mehrere Stapel mit bunt bedruckten Kärtchen aus den diversen Taschen seines Mantels und blätterte sie vor mir auf den Tisch.
"Also eigentlich hole ich mir meine Telefonkarten immer am Postschalter..."
Rudis Augen betrachteten kurz die Innenseite seines Schädels, bevor sie wieder in die normale Position zurückkehrten und er jeden seiner Worte besonders klar formulierte.
"Ich meine die neuen Möglichkeiten, beim Telefonieren Geld zu sparen. O.tel.o, Arcor, TalkLine, CallSpeak. Endlich billig telefonieren. Ich habe sie alle im Angebot. Besonders günstig. Unter uns: Ich mache das auf Provisionsbasis. Die zahlen für neue Kunden. Bei guten Freunden mache ich natürlich Sonderangebote. Wir teilen uns die Provision 80:20?"
Ich betrachtete stirnrunzelnd die vor mir liegenden Kärtchen.
"Paß auf, nehmen wir mal an: Du stehst an der Autobahnraststätte und mußt dringend jemand anrufen. Was tust du?"
"Ich werfe 50 Pfennig in den Automaten und telefoniere."
"Nehmen wir an, du hast kein Geld dabei."
"Dann telefoniere ich mit meiner Telefonkarte von der Telekom."
Rudi blickte wieder gen Himmel. "Okay, denken wir uns was ganz alltägliches aus: Du hast kein Geld dabei, die Telefonkarte ist bis auf 40 Pfennig abtelefoniert, und du mußt deine Tante in Florida anrufen."
"Ich habe eine Tante in Florida?" Ich war verwirrt.
"Nehmen wir es einfach mal an. Dann kannst du mit diesen Karten telefonieren. Von jedem Automaten aus. Und das Beste: sogar noch billiger, als wenn du direkt bezahlst."
Das hörte sich schon interessanter an.
"Ich stecke die Karte in den Schlitz und kann telefonieren?"
"Nein. Die Karte braucht man eigentlich nicht. Nur die Nummer darauf. Ach, wir probieren das einfach aus. Wo ist denn..."
Rudi blickte sich suchend um und entdeckte das kleine Münztelefon, das Hermann, der Wirt, in der Ecke an der Wand angebracht hatte.
"Laß uns mal rübergehen. Hermann, zwei Pils auf ihn hier!"
Wir standen vor dem Gerät. Leider befand es sich in der näheren Umgebung einer der Lautsprecherboxen, so daß die Unterhaltung sich zwangsläufig in höheren Dezibel-Bahnen bewegen mußte.
"Siehst du? Jetzt müßtest du eigentlich Geld einwerfen. Aber: Hast du überhaupt Geld? Nimmt er die Münze? So nimmst du nur dieses Kärtchen und telefonierst."
"?"
"Mein Gott, ist doch kinderleicht". Er vertiefte sich in die auf der Karte aufgedruckte Gebrauchsanweisung.
"Wie gesagt, ganz einfach. Du wählst einfach die richtige nationale Zugangsnummer. Also, in diesem Fall erst die 0130, dann die 3424 mmh...." Sein Gemurmel verlor sich im Hintergrund der Musik.
Er tippte verzweifelt eine größere Zahl von Ziffern ein, schien sich vertippt zu haben und begann von vorne.
"So, wo waren wir stehengeblieben?"
"Kinderleicht..."
"Genau. Jetzt kann man einfach den Anweisungen der Computerstimme folgen. Sie erklärt einem das Weitere." Sein Gesicht verzerrte sich, während er versuchte, den Telefonhörer zwecks besserem akustischem Verständnis in sein Ohr zu schieben.
"Was?" Er zerrte wieder die Karte hervor und fing erneut an zu lesen
"Wir können auch nach dieser Anleitung hier vorgehen. Also, als nächstes tippen wir die Kartennummer auf der Vorderseite ein. Da sieht man einen weiteren Vorteil: Wenn du dir die Nummer einfach merkst, kannst du auch jederzeit ohne das Kärtchen telefonieren. Also..."
Er gab die zwölfstellige Kartennummer ein und drückte auf eine Sondertaste.
"Und jetzt kann ich telefonieren?"
"Nein. Sonst könnte ja jeder, der deine Karte geklaut hat, damit auf deine Kosten Ferngespräche führen. Deswegen gibst Du als nächstes deine persönliche und geheime Pin-Nummer ein, äh die Pin-Nummer, äh jaaa..."
Er begann die Taschen seines Mantels systematisch abzuklopfen. Neben diversen unbezahlten Rechnungen und einem Strafzettel wegen rücksichtslosen Parkens förderte er jedoch nichts zu Tage.
"Wo hab ich bloß die Nummer, ich hatte doch... ah, da ist sie!" Er strahlte und zeigte mir die mit Filzstift auf die Karte gepinselten Zahlen. "Das besonders praktische an Karten: Man kann sich wenigstens die Nummer notieren und läuft nicht Gefahr, daß man sie vergißt. So jetzt geben wir die PIN-Nummer ein und..."
Leider schien der zeitlich schleppende Verlauf der Transaktion den Telefonbetreiber zur Ansicht gebracht zu haben, daß an diesem Kunden nichts zu verdienen sei. Die Verbindung war unterbrochen. Rudi begann noch einmal von vorne.
"...so, jetzt das #-Zeichen, dann die PIN-Nummer, dann wieder das #-Zeichen, voilà!"
"Und jetzt?"
"Jetzt können wir deine Nummer wählen, die du anrufen willst. Gib mal her!"
Er entriß mir mein Notizbüchlein und begann wahllos zu blättern.
"Du tippst einfach die eigentlich benötigte Nummer ein, am Schluß noch eine Rautetaste, und siehe da, es ist eine Verbindung da. Kinderleicht."
Sein Lächeln überstrahlte problemlos die Beleuchtung hinter dem Tresen.
"Da ist jemand dran."
Rudi lauschte am Hörer. "Nein, ich habe sie nicht angerufen. Herr Marion wollte sie anrufen."
Ich fuchtelte mit den Händen.
"Nein, er will sie doch nicht sprechen. Was heißt hier, aus dem Schlaf gerissen?"
Er hielt den Hörer zu. "Du, der behauptet, er wäre dein Chef?"
Ich unterbrach die Verbindung durch einen wortlosen Druck auf die Gabel und starrte Rudi böse an.
"Okay, okay, das ist halt der Umgang mit den neuen technischen Möglichkeiten. Du kannst meinen Hals jetzt loslassen. Den Hauptvorteil hast du nämlich noch gar nicht gesehen. Denn die Rechnung kommt erst später. Per Post und auch noch viel billiger."
Er zwinkerte mir zu.
"Dieses Schlitzohr von Wirt hat nämlich die Einheit hier auf 50 Pfennig hochgesetzt. Das ist sauteuer. Genau genommen ist das Wucher. So aber kriegt der miese Geizhals keinen Pfennig. Die Grundgebühr für den Apparat zahlt der Dümmel natürlich selber. Hehe. Danke!"
Er nahm Hermann die beiden Biergläser aus der Hand. Merkwürdigerweise schien Hermann nicht wieder hinter seinen Tresen gehen zu wollen, sondern klopfte mit seiner Faust rhythmisch auf die Wand neben dem Telefon.
"Oh, äh, Hermann, Du , äh, stehst schon länger hier?" Ich blickte geistesgegenwärtig auf meine Uhr.
"Sowas, mir fällt gerade ein, daß ich dringend gehen muß. Und ihr scheint ja einiges zu bereden zu haben. Rudi zahlt ."
Ich verschwand eiligst.
Wirklich toll, diese neuen technischen Möglichkeiten.

Klaus Marion




Klaus Marion


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Last updated 02.11.98